Die Schweigepflicht bei verstorbenen Patienten

Versuch einer Kasuistik

1. Das Problem

 

Die Schweigepflicht endet nicht mit dem Tod des Patienten. Als „Rückstand der Persönlichkeit" behält auch der verstorbene Patient den Schutz, den das Gesetz ihm zu Lebzeiten in Bezug auf die Pflicht des Arztes, seine Gesundheitsinformationen vertraulich zu behandeln, gewährt hat. Auch bei verstorbenen Patienten ist die Verletzung der Schweigepflicht standesrechtlich (§ 9 MBO) und strafrechtlich (§ 203 StGB) sanktioniert.

 

Von der Schweigepflicht umfasst sind folgende Informationen:

  • die Tatsache, dass überhaupt ein Behandlungsverhältnis zu einer bestimmten Person bestanden hat,
  • die Art der Verletzung oder Erkrankung,
  • der Unfallhergang, Krankheitsverlauf etc.,
  • die Ergebnisse der Untersuchung, die Diagnostik und (Verdachts-)Diagnose,
  • die durchgeführten Maßnahmen sowie
  • alle übrigen Informationen, die dem Helfer während des Behandlungsverhältnisses bekannt wurden (z. B. Wohn- und Lebenssituation, Sucht, sexuelle Vorlieben, Vermögenslage, körperliche Hygiene).

Die Schweigepflicht umfasst nicht nur die mündliche oder schriftliche Auskunftserteilung, sondern auch die Herausgabe von Behandlungsunterlagen und Patientenmaterial in jeder Form (Blöckchen, Objektträger, Körperteile). Lange war umstritten, in welcher Form eine Schweigepflichtentbindung bei verstorbenen Patienten erfolgen kann. Mittlerweile besteht in der ober- und höchstgerichtlichen Rechtsprechung Einigkeit darüber, dass eine Schweigepflichtentbindung durch Angehörige und/oder Erben unbeachtlich ist und nicht zum Wegfall der Verschwiegenheitspflicht führt. Umgekehrt können die Erben eine zu Lebzeiten erteilte Schweigepflichtentbindung des Verstorbenen nicht widerrufen. Dieser Auffassung hat sich – zumindest in einem Briefwechsel mit dem Autor – auch das Präsidium der Bundesärztekammer angeschlossen. Näheres hierzu findet sich in meinem Artikel in Kap. B 5.1. des Mitgliederhandbuchs des Bundesverbands. Leider hat sich die Auffassung der Gerichte und Selbstverwaltungskörperschaften noch nicht in alle Winkel des Landes herumgesprochen. So verlangen serienmäßig die Gutachterkommissionen und Schiedsstellen für ärztliche Behandlungsfehler eine Schweigepflichtentbindungserklärung der Erben. Betroffene Ärzte sollten auf die tatsächliche Rechtslage hinweisen.

 

Aufgrund der Höchstpersönlichkeit der Schweigepflichtentbindung gilt für verstorbene Patienten im Grundsatz Folgendes: Die ärztliche Schweigepflicht besteht nach dem Tod des Patienten weiter. Ob die Schweigepflicht ausnahmsweise nicht gegeben ist, bestimmt sich nach dem mutmaßlichen Willen des Patienten. Dieser mutmaßliche Wille ist vom Arzt pflichtgemäß und mit erheblicher Anstrengung zu erforschen und sodann ist die Entscheidung zu treffen, ob Auskunft erteilt wird oder nicht.

 

In den letzten Jahren hat es eine Vielzahl von Urteilen hierzu gegeben. Dies erlaubt es jetzt, Fallgruppen zu bilden, um im Einzelfall Anhaltspunkte zu bekommen, wie der „mutmaßliche Wille" des Patienten aussehen könnte.

 

2. Die Kasuistik

 

a) Vaterschaftsfeststellung

Im Bereich der Vaterschaftsfeststellung ist jedenfalls dann, wenn der Verstorbene das Feststellungsbegehren seines mutmaßlichen Kindes zu Lebzeiten kannte und sich dagegen zur Wehr setzte, die Auskunft/Herausgabe zu verweigern. Anders sieht es aus, wenn sich das Kind erst nach dem Tod des Patienten gemeldet hat. In diesen Fällen ist die Interessenlage durch Einsichtnahme in die Prozessakten des Vaterschaftsprozesses zu erforschen.

 

b) Testierfähigkeit

In vielen Erbscheinerteilungsverfahren und Erbschaftsprozessen geht es um die Frage, ob der Erblasser zur Zeit der Testamentserrichtung noch testierfähig war. Diese Frage kann meist nur durch Einsichtnahme in die Patientenunterlagen geklärt werden. Vor allem in onkologischen Fällen betrifft dies häufi g auch die Behandlungsunterlagen der Pathologie. Der Bundesgerichtshof gelangt hier zu der bemerkenswerten Auffassung, es entspreche dem Willen des Erblassers, dass Auskünfte erteilt werden, weil der Erblasser daran interessiert sein müsse, dass juristisch das richtige Ergebnis herauskomme. Diese Auffassung ist hanebüchener Unsinn, weil in der Geschichte der Justiz noch nie jemand hieran interessiert war, sondern jeder in jedem Prozess immer und ausschließlich die eigenen Interessen verfolgt. Jeder Erblasser muss deshalb daran interessiert sein, dass eine Testierunfähigkeit nicht festgestellt wird, damit sein letzter Wille befolgt wird. Die Beweislastverteilung führt übrigens gewöhnlich dazu, dass der Erblasser als testierfähig gilt, wenn das Gericht in diesem Punkt keine abschließende Klarheit gewinnt.

 

c) Arzthaftung

In Fällen der Arzthaftung ist der mutmaßliche Wille des Patienten in aller Regel auf die Entbindung von der Schweigepflicht gerichtet, da die hierdurch entstehenden Beweismöglichkeiten im Arzthaftungsprozess zu einer Vermögensmehrung seiner Angehörigen führen können.

 

d) Beweismittelgewinnung bei Unfällen und Straftaten

Bei Unfällen und Straftaten kann die ärztliche Auskunft sowohl zu einer Verbesserung als auch zu einer Verschlechterung der Beweislage für die Angehörigen führen. Hier kommt es auf den Einzelfall an. Ein deutliches Indiz für die Zulässigkeit ärztlicher Auskunftserteilung ist gegeben, wenn die Angehörigen des Verstorbenen die Beiziehung der Patientenunterlagen beantragt haben. Kommt der Antrag hingegen vom Prozessgegner der Angehörigen, ist die Auskunft eher zu verweigern. Ganz schwierig wird es, wenn der Angehörige sich in einem Strafverfahren dadurch entlasten will, dass er den Verstorbenen belastet und hierzu Beweis durch Zeugnis eines behandelnden Arztes anbietet. Ein solcher Konflikt ist schlicht unlösbar.

 

e) Trauerarbeit

Einsicht in die Behandlungsunterlagen wird durch Angehörige häufig beantragt, um den Leidensweg des geliebten Verwandten nachvollziehen zu können. Dies ist nach meiner Erfahrung eine verhängnisvolle Art der Trauerarbeit, die oft in eine Begehrensneurose führt oder andere psychische Erkrankungen unterstützt. In diesen Fällen ist zu vermuten, dass ein verständiger Patient mit der Auskunftserteilung nicht einverstanden wäre, weil sie seinen trauernden Angehörigen schadet.

 

3. Fazit

 

Die Notwendigkeit, den mutmaßlichen Willen des Patienten zu erforschen, führt den Arzt in juristische und persönliche Gefilde, die eine medizinische Tätigkeit weit hinter sich lassen. Teilweise wird es notwendig sein, ganze Prozesse nachzuvollziehen, um eine pflichtgemäße Entscheidung treffen zu können. Es kann sogar zu einem Konflikt zwischen der Strafdrohung des Gesetzes und dem autoritären Auftreten eines Gerichts kommen, das hinsichtlich der Schweigepflicht im jeweiligen Fall anderer Meinung ist als der Arzt. Die vorstehende Fallgruppeneinteilung kann bei der Entscheidung, wie zu verfahren ist, helfen, aber eine Prüfung im Einzelfall nicht ersetzen. Sobald Mediziner mit sachfremden und vermeintlich unlösbaren Entscheidungskonflikten konfrontiert werden, sollte sachverständige Hilfe in Anspruch genommen werden. Gerichtliche Anordnungen sollten grundsätzlich hinterfragt, aber im Ergebnis befolgt werden, um die eigene Arbeitskraft für den Dienst am Patienten zu erhalten.

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