Sehr geehrte Damen und Herren,
herzlich willkommen zur siebenundzwanzigsten Ausgabe meines Mandantenbriefs. Wie bereits angekündigt berichte ich in dieser Ausgabe über die im März 2020 beschlossene Veränderung des EBM bei der HPV-Subtypisierung. Der Bewertungsausschuß korrigierte im ersten Quartal seine Bewertungsbeschlüsse vom Dezember 2019. Darin war die HPV-Genotypisierung als verpflichtender Leistungsbestandteil formuliert worden, obwohl sie laut Beschluß des G-BA nur fakultativ sein sollte. Dies hat dazu geführt, daß die bisher mit 171 Punkten bewertete Ziffer 01767 auf 153 Punkte gemindert wurde. Für die Fälle, in denen eine Genotypisierung auf HPV-Typ 16 und 18 bei einem positiven Nachweis von high-risk-HPV-Typen erfolgte, wurde zusätzlich die Ziffer 01769 geschaffen, die ebenfalls mit 153 Punkten bewertet wurde. Dies führte unter dem Strich zu einer schlechteren Bezahlung für die HPV-Leistungen insgesamt.
Anstoß zu nehmen ist nicht unbedingt an dieser Änderung, die im Wesentlichen auf die Intervention eines einzelnen Pharmaunternehmens zurückzuführen ist, sondern daran, daß die Änderung auch rückwirkend für das erste Quartal 2020 gelten soll. Der Zeitpunkt der Änderung ist ärgerlich, weil sich die Pathologen bei den nicht unerheblichen Investitionen und Verhandlungen mit Zulieferern auf die Ende 2019 bekanntgegebenen Abrechnungsmodalitäten verlassen haben.
Grundsätzlich ist der Bürger in seinem Vertrauen auf das Bestehen von Gesetzen geschützt, was sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 GG, ergibt. Das rückwirkende Verändern von Gesetzen ist dabei teilweise erlaubt und teilweise verboten, der Jurist unterscheidet zwischen einer echten und einer unechten Rückwirkung. Eine echte Rückwirkung liegt vor, wenn der Gesetzgeber rückwirkend in einen bereits abgeschlossenen Sachverhalt eingreift, die Rechtsfolgen des Gesetzes also für ein vor der Verkündung beendeten Tatbestand gelten sollen. Solche Rückwirkungen sind nur im Ausnahmefall rechtmäßig, etwa bei einer besonders unübersichtlichen, verworrenen Rechtslage.
Von einer unechten Rückwirkung spricht man, wenn ein Gesetz auf gegenwärtige noch nicht abgeschlossene Sachverhalte rückwirkend einwirkt und damit eine Rechtsposition nachträglich entwertet wird. Diese Art der Gesetzgebung ist grundsätzlich zulässig, weil es keinen generellen Vertrauensschutz auf den Fortbestand von Gesetzen gibt und der Staat bei Änderungen der Tatsachen eine Änderungsmöglichkeit für seine Gesetze haben muß.
Im vorliegenden Fall kommt es also darauf an, ob die Änderung des EBM durch den Bewertungsausschuß eine echte oder eine unechte Rückwirkung darstellt.
Hierbei hilft ein gerade erst veröffentlichtes Urteil des Bundessozialgerichts vom 26.06.2019 – B 6 KA 8/18 R, in dem sich das BSG ausführlich zu dem Problem der echten oder unechten Rückwirkung bei Änderungen des EBM geäußert hat. Dieses Urteil soll auszugsweise wiedergegeben werden wie folgt:
„… Vorliegend ist ein Fall echter Rückwirkung gegeben... Dieser Beurteilung kann - entgegen der Rechtsauffassung des LSG - nicht entgegengehalten werden, der von der Neuregelung der GOP 88740 EBM-Ä betroffene Sachverhalt sei noch nicht abgeschlossen gewesen, sodaß nur eine unechte Rückwirkung vorliege. Zwar ist zutreffend, daß die Abrechnung für das Quartal 4/2009 zum Zeitpunkt der Beschlußfassung am 7.10.2009 noch nicht erfolgt war beziehungsweise sein konnte. Dementsprechend hat der Senat in dem vom LSG zitierten Urteil vom 29.11.2006 (B 6 KA 42/05 R) entschieden, daß Honorarbegrenzungsregelungen, die noch vor Durchführung der Abrechnung eines Quartals in einen Honorarverteilungsmaßstab aufgenommen werden, regelmäßig nur eine unechte Rückwirkung entfalten. Denn der konkrete Honoraranspruch entsteht erst nach Prüfung der Abrechnung und Berechnung des tatsächlichen Anspruchs auf Honorarteilhabe. Erst durch die Gegenüberstellung der abgerechneten Gesamtpunktmenge mit den von den Krankenkassen entrichteten Gesamtvergütungen und die darauf basierende Errechnung der Verteilungspunktwerte konkretisiert sich der bis dahin nur allgemeine Anspruch auf anteilige Beteiligung an der Gesamtsumme der Gesamtvergütungen zu einem konkreten individuellen Honoraranspruch. Der Vertragsarzt kann mithin in der Regel nur von einer ungefähren Höhe des zu erwartenden Honorars ausgehen …
Indessen hat der Senat bereits mit Urteil vom 17.9.1997 … für Regelungen des EBM-Ä ausgeführt, daß nicht stets wegen des späteren Zeitpunkts der Honorarberechnung und -auszahlung ein noch nicht abgewickelter Sachverhalt vorliegt. Zu beachten ist vielmehr, daß die Vertragsärzte im Zeitpunkt der Leistungserbringung die für die Leistungen anfallenden Kosten und die durch die Vergütungsregelungen erzielbaren Einnahmen mit berücksichtigen und ihre Leistungserbringung in gewissen Grenzen darauf einrichten können. Die Funktion des EBM-Ä erschöpft sich nicht nur in der Bewertung ärztlicher Leistungen, sondern ihm kommt auch Steuerungsfunktion insoweit zu, daß er auf die Leistungserbringung, also auf das Leistungsverhalten des Arztes einwirken soll. Die Leistungserbringung im vertragsärztlichen System kann sich grundsätzlich nur nach den Normen vollziehen, die zu dem Zeitpunkt gelten, in dem der Arzt die einzelne Leistung ausführt. Wegen der vielgestaltigen Rechtsfolgen, die daran anknüpfen, muß sowohl für den Versicherten als auch für den Vertragsarzt vor dem Beginn einer Untersuchung/Behandlung - oder wie hier vor Erbringung einer Laborleistung - feststehen, ob eine bestimmte Maßnahme eine im vertragsärztlichen System erbringbare und abrechenbare Leistung darstellt oder nicht.
Die dem EBM-Ä von Gesetzes wegen zukommende Steuerungsfunktion gestattet und erfordert die Einführung ergänzender Bewertungsformen, um die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung zu fördern oder Verteilungseffekte mit dem Ziel einer angemessenen Vergütung zu erzielen. Allen steuernden Regelungen ist gemeinsam, daß die mit ihnen intendierten Zielsetzungen nur erreicht werden können, wenn sie zu dem Zeitpunkt, in dem der einzelne Leistungserbringer über das Ob und das Wie der Leistungserbringung entscheidet, in Kraft sind. Der Senat hat dementsprechend die rückwirkende Herausnahme ärztlicher Leistungen aus dem EBM-Ä ebenso wie die rückwirkende Reduzierung der Punktzahl, mit der die einzelne Leistung bewertet worden ist, nicht gebilligt …“
Falls dieses Urteil für die Änderung der HPV-Abrechnung einschlägig ist, wird dies bei den betroffenen Pathologien, die Widerspruch gegen die Quartalsabrechnung I/2020 einlegen, zu einer Nachvergütung führen. Man kann dafür und dagegen argumentieren, ich meine, daß mehr dafür spricht. Es ist aber zu erwarten, daß nicht alle Kassenärztlichen Vereinigungen das so sehen. Erfahrungsgemäß wird dort ärztefreundliche Rechtsprechung oft nur mit erheblicher Verzögerung umgesetzt.
In diesen Tagen gehen die Abrechnungsbescheide für das erste Quartal 2020 bei den Ärzten ein. Es ist Pathologen, die HPV-Leistungen erbringen, dringend zu empfehlen, gegen den Bescheid Widerspruch einzulegen. Kursorisch könnte dieser Widerspruch gefaßt werden wie folgt:
„Hiermit lege ich gegen den Abrechnungsbescheid für das erste Quartal 2020
Widerspruch
ein.
Die nachträgliche Absenkung der Ziffer 01767 von 171 auf 153 Punkte ist ein Verstoß gegen das verfassungsmäßig garantierte Rückwirkungsverbot und dementsprechend rechtswidrig.
Ich gehe davon aus, daß es hierzu ein Musterverfahren geben wird und bin damit einverstanden, daß die Entscheidung über meinen Widerspruch bis zum Ausgang dieses Musterverfahrens zurückgestellt wird.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. med. X Y“
Pathologen, die die formelle Durchsetzung ihrer Rechte wünschen, können sich gern melden. Die Finanzierung eines Prozesses über eine Umlage vieler Pathologen ist angesichts der Tatsache, daß es sich nur um ein einziges Quartal handelt, voraussichtlich zu aufwendig. Es dürfte das Beste sein, wenn die umsatzstärksten Zytologien die entsprechenden Verfahren in den einzelnen KV-Bezirken betreiben.
Ich bin vom 25.07. bis 09.08.2020 im Urlaub. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Sommer.
Herzlichst Ihr
C. Renzelmann