Statistik medizinischer Behandlungsfehler

Eine offizielle Behandlungsfehler-Statistik gibt es in Deutschland nicht, da ärztliche Kunstfehler nirgendwo meldepflichtig sind. Von Zeit zu Zeit werden von verschiedenen Körperschaften, Versicherungen oder auch von der Rechtswissenschaft Statistiken veröffentlicht, die für das Gesamtaufkommen aber lediglich Anhaltspunkte geben können. Einige Statistiken habe ich zusammengetragen und ausgewertet wie folgt:

 

1.

 

Nach einer Statistik der DBV-Winterthur, des seinerzeitigen Marktführers im Bereich der Haftpflichtversicherung, waren im Jahr 2006 dort 128.000 Ärzte versichert. Diese gaben 4.362 Schadenmeldungen ab. Die Vorwürfe waren in 46 % der Fälle berechtigt (nach Auffassung der Versicherung), in 54 % der Fälle nicht.

 

In 32 % der Fälle wurde ein Schlichtungsverfahren vor der zuständigen Ärztekammer durchgeführt. 89 % der Fälle wurden außergerichtlich erledigt.

 

In 11 % der Fälle sollen Zivilprozesse durchgeführt worden sein, die zu lediglich 4 % vom Arzt verloren worden sein sollen. Dies ergäbe auf Behandlerseite eine Verlustquote von nur 0,44 % aller Fälle.

 

Diese Statistik dürfte mit Vorsicht zu genießen sein. Es wird z.B. nicht angegeben, in wie viel Prozent der Fälle es zu Prozessvergleichen gekommen ist. Dies sind erfahrungsgemäß etwa 1/3 der gerichtlich geltend gemachten Fälle. Letztlich bleibt festzuhalten, dass knapp die Hälfte der gegenüber Ärzten geltend gemachten Fälle in irgendeiner Form reguliert wurden, was für eine vergleichsweise gute Regulierungspraxis dieser Versicherung spricht.

 

2.

 

Im Deutschen Ärzteblatt wurde im Jahr 2003 veröffentlicht, dass etwa 400 Millionen Arzt-Patienten-Kontakte pro Jahr stattfinden. Hierbei sollen nach der damaligen Veröffentlichung ca. 400.000 Behandlungsfehler aufgetreten sein, d.h. ein Behandlungsfehler tritt nach dieser Statistik in jedem tausendsten Fall auf. Hieraus hätten lediglich 40.000 Verfahren resultiert, woraus sich wiederum ergibt, dass nur etwa jeder zehnte Patient den Behandlungsfehler bemerkt und gegen den Arzt vorgeht. Von diesen Prozessverfahren hätten 7.500 bis 10.000 durch gerichtliche Verurteilung geendet. Dies entspricht einer Gewinnquote des Patienten von 20 bis 25 %, was wiederum sehr hoch erscheint, da viele Fälle durch einen gerichtlichen Vergleich enden.

 

3.

 

Im Jahr 2008 veröffentlichte die Bundesärztekammer in ihrem jährlichen Bericht zur Behandlungsfehlerstatistik, dass von Gutachtern etwa 2.100 Behandlungsfehler bestätigt worden seien, wobei es in ca. 1.700 Fällen zu Schadenersatz- bzw. Schmerzensgeldzahlungen gekommen sei.

 

Zum Vergleich: Im Bericht für das Jahr 2011 wurden 2.287 Behandlungsfehler oder fehlerhafte Risikoaufklärungen bestätigt, die in 1.901 Fällen zu einem konkreten Schadenersatz- und Schmerzensgeldanspruch geführt hätten. Hier kann man also einen Anstieg der geltend gemachten Ansprüche feststellen, der anderswo (Versicherungsseite) mit ca. 10 % pro Jahr angegeben wird.

 

4.

 

Aus unserer eigenen Praxis ist bekannt, dass die außergerichtliche Regulierungsquote etwa 1/3 der Fälle betrifft. Die übrigen 2/3 der Patienten müssen entweder den Rechtsweg beschreiten oder geben mangels Nerven bzw. „Kriegskasse“ auf. Im Prozesswege ist dann der Patient wiederum in etwa 1/3 der Fälle erfolgreich durch Prozessgewinn oder meistens durch Vergleich. Die Gesamt-Erfolgsquote beträgt demnach ca. 50 % der Fälle. Dies entspricht der eingangs erwähnten Statistik der DBV-Winterthur.

 

5.

 

In der Zeitschrift für Medizin- und Gesundheitsrecht wurde im Jahr 2006 von Versicherungsseite mitgeteilt, dass die Schadensaufwendungen zwischen den Jahren 2004 und 2005 um 39,2 % angestiegen sein sollen. Für 2006 wird ein Wert von 11,3 Mio. € bundesweit zur Regulierung von Arzthaftungsansprüchen angegeben. Im Verhältnis zum Jahr 2005 müssten die Schadensaufwendungen weiter deutlich angestiegen sein. In den letzten zehn Jahren sind etliche Fälle aufgetreten, in denen im Einzelfall die Regulierung mehr als eine Million Euro gekostet hat, etwa bei Geburtsschadensfällen und Fällen, in denen ein Patient ins Wachkoma gefallen ist. Bei den Gynäkologen machen die Beiträge für die Haftpflichtversicherung bereits einen ganz erheblichen Teil der Praxiskosten aus. Manche Arztgruppen (z.B. operierende Gynäkologen) haben erhebliche Schwierigkeiten, sich überhaupt noch zu versichern.

 

6.

 

Die Gründe für den Anstieg der Schadensaufwendungen und auch die Häufigkeit der Haftungsfälle sind mannigfaltig:

 

Der Arzthaftungsfall ist für die Medien ein Thema, über das gern und ausführlich berichtet wird. Neben dem beim Zuschauer erzeugten Mitleidseffekt hat es doch immer etwas sensationelles, wenn jemand, der eigentlich helfen soll, zum Schädiger wird. Das Thema eignet sich auch hervorragend, um angebliche soziale Ungleichgewichte zwischen Patienten und Ärzten darzustellen. Für den Patientenanwalt ist es immer sehr gut bemerkbar, wenn eine solche Sendung gelaufen ist, da sich in der Woche darauf stets mehrere Patienten melden, die sonst den Weg zum Anwalt nicht gefunden hätten.

Mit wachsender Bekanntheit des Arzthaftungsrechts ist es zu fortlaufender Spezialisierung von Anwälten gekommen. Die Zahl der Fachanwälte für Medizinrecht hat sich von 125 im Jahr 2006 bis 1310 im Jahr 2013 entwickelt, also mehr als verzehnfacht. Jährlich kommen derzeit mehr als 100 hinzu. Bemerkenswert ist, dass sich die Zahl der Fachanwälte etwa um den gleichen Faktor vermehrt wie die Zahl der Arzthaftungsfälle.

Die Zahl der Haftungsfälle wächst auch mit der Qualität der Rechtsanwendung. Die meisten Landgerichte haben Spezialkammern für Arzthaftungsrecht eingesetzt und die dort beschäftigten Richter nehmen an regelmäßigen Richterfortbildungen teil. Sie sind jetzt stärker als noch vor zehn Jahren in der Lage, auch komplizierte medizinische Sachverhalte zu analysieren und zur Entscheidung zu bringen. Das Arzthaftungsverfahren ist durch richterliche Rechtsfortbildung vereinheitlicht worden und hat fast überall einen hohen juristischen Standard erreicht. Aufgrund der Bemühungen der Richterschaft, im Arzthaftungsprozess Waffengleichheit zwischen Arzt und Patient herzustellen, ist das Klagen ohne medizinische Spezialkenntnisse einfacher geworden.

Ein weiterer Grund dafür, dass viele Patienten das Handeln ihres Arztes in Frage stellen, ist darin zu sehen, dass der früher sehr stark vorhandene Nimbus des ärztlichen Berufs gesunken ist. Der Arzt wird nicht mehr als „Halbgott in weiß“ wahrgenommen, sondern zunehmend als Dienstleister, der Fehler machen kann und bei dem man sich dann auch nicht scheut, entsprechende Beschwerde zu führen.

Ein weiterer Grund für den Anstieg des Phänomens Arzthaftung ist der steigende Kostendruck im Gesundheitswesen. Durch Einführung der DRG im stationären Bereich ist es zwar nicht zur erwarteten massenhaften „blutigen Entlassung“ gekommen, da entsprechende Sicherungsmechanismen ins Gesetz eingebaut wurden. Es ist aber sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich festzustellen, dass häufig für den Patienten nur das getan wird, was unbedingt erforderlich ist. Dies entspricht allerdings den Vorgaben des Gesetzgebers, der fordert: „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“. Ein Zusammenhang zwischen Komplikationshäufigkeit und der Verpflichtung der Mediziner, Kosten zu sparen, ist klar erkennbar.

Auch die Tatsache, dass insbesondere im stationären Bereich Kliniken teilweise massiv unterbesetzt sind, und zwar sowohl hinsichtlich des ärztlichen als auch des nichtärztlichen Personals, führt zu teilweise ganz erheblichen Behandlungsfehlern.

Bemühungen, den Anstieg der Behandlungsfehlerfälle und der Schadensaufwendungen zu vermindern, hatten durch die Bank bisher keinen Erfolg. Ein aktives Schadensmanagement, wie es in den Vereinigten Staaten praktiziert wird, hat sich bisher in Deutschland nicht durchsetzen lassen. Schadensvermeidung durch Qualitätsmanagement, Operationsmanagement und Hygienemanagement zeigt bisher wenig Erfolg, da diese Maßnahmen zwar zu viel Bürokratie und steigenden Kosten, aber nicht erkennbar zu mehr Qualität geführt haben.

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